Ich 
                      habe es gut, schließlich darf ich über Agnes 
                      Si-oda und ihre Bilder sprechen. Das werde ich auch gleich 
                      tun, aber zuerst möchte ich Sie fragen: Ha-ben Sie 
                      schon einmal von Giwi Margwelaschwili gehört?
                    Es 
                      ist jetzt ungefähr 15 Jahre her, dass ich Giwi Margwelaschwili 
                      in Berlin kennenlernte. Er lebte hinter einer blaugrauen 
                      Stahltür in einer Hinterhof-parterrewohnung in einer 
                      ärmlichen, dunklen, abge-rissenen Ecke des Prenzlauer 
                      Bergs. Damals, als wir uns treffen, ist Giwi Margwelaschwili 
                      ein klei-ner, rundlicher Mann von Mitte sechzig mit grau-weißer 
                      Mähne und hellen, wachen Augen. Ich habe leider nicht 
                      die Zeit, Ihnen das Leben dieses geor-gisch-deutschen Schriftstellers 
                      zu erzählen, der 1927 als Sohn eines georgischen Emigranten 
                      in Berlin geboren wird, den der KGB 1946 entführt, 
                      im KZ Sachsenhausen einsperrt und schließlich ins 
                      fern-fremde Tbilissi verschleppt und der erst 1990 den Weg 
                      nach Deuxiland, wie er dieses Zuhause seiner Sprache nennt, 
                      findet. Kurz: Hinter der blau-grauen Hinterhofstahltür 
                      lebt ein Mann, der in sehr vielen Welten zuhause ist. Davon, 
                      von diesen ver-schiedenen Welten, handeln seine Bücher. 
                      Und Bü-cher sind für ihn Türen zur Buchwelt, 
                      die man be-treten und verlassen kann, wen man will, das 
                      heißt, wenn man liest. Jedes Buch ist ein Einstieg 
                      in eine eigene Welt. Offenbar, so sagt es jedenfalls Giwi 
                      Margwelaschwili, offenbar wäre diese Welt ohne diese 
                      Neben-, Gegen, Zwischenwelten zu klein zum Leben. 
                    Aber 
                      ich wollte ja über die Bilder von Agnes Sioda sprechen. 
                      Lassen wir Giwi also ruhig ein wenig warten in einem seiner 
                      vielen wunderbaren Bücher. Er langweilt sich dort sicher 
                      nicht, schließlich ist er in bester Gesellschaft. 
                      Ich hole ihn später wieder ab. 
                    Also 
                      die Bilder von Agnes Sioda. Vorletzte Woche war ich auf 
                      Spiekeroog, der kleinen Insel im Nach-bar- und Konkurrenzmeer 
                      dieser Ostsee hier. An einem dieser hellen, fast warmen 
                      Nachmittage vor Ostern spazierte ich durch ein Eichen-, 
                      Kiefer, Bir-kenwäldchen und überlegte, was ich 
                      Ihnen heute sagen sollte. Als ich die Bäume hinter 
                      mir ließ, stand ich plötzlich vor einer Dünenlandschaft. 
                      Ein wenig helles Grün vorne, ockerfarbene Partien links, 
                      etwa Braun stand auch im Raum. Alles war flächig verteilt, 
                      eine sanfte Kuppe schloss einen aufsteigenden Keil aus gelblichem 
                      Gras ab, und ei-ne Fasanenhenne war auch da; rechts strich 
                      ein Wind durch einen Rest Reisig. Sofort dachte ich an eines 
                      von Agnes Bildern, vielmehr an einige ihre Bilder aus der 
                      Zeit, als wir uns kennenlernten, da-mals, bevor sie nach 
                      Paris ging. Und irgendwie rutschte ich raus aus den Spiekerooger 
                      Dünen und landete in einer Küche in Friedrichshain, 
                      rotes Sofa, dicker Kater, und vor mir hinter neben mir dieses 
                      unglaubliche Ocker. Farben haben ihre Orte, ihre Zeiten. 
                      
                    Neulich, 
                      letztlich, vor ein paar Wochen saß ich in einer kleinen 
                      dreiräumigen Wohnung in Paris, die Agnes als Atelier 
                      nutzte. Im Nebenzimmer gab es Erdnüsse, an den Wänden 
                      Bilder; eine Freundin hatte aus Stoffen mit Motiven nach 
                      Agnes' Zeich-nungen Kleider genäht, und allerlei Leute 
                      kamen und gingen, in den Augen diesen bestimmten „Ich-entdecke-meinen-eigenen-Künstler-selber-und-zwar-zum-halben-Preis-wenn-dafür-meine-tolle-antibürgerliche-Persönlichkeit-entdeckt-wird“-Blick. 
                      Es waren die Tage des Offenen Ateliers, Hal-lo auf Wiedersehen, 
                      wie geht's denn so. Für die Künstler eine Tortur 
                      der Dauergutelaune, für die anderen ein überstandener 
                      Samstag- oder Sonntag-nachmittag. Eine Tür flammte 
                      in Gelborange, ein großes dunkles Blau-Schwarz-Bild 
                      beherrschte den einen Raum, ein kleineres den anderen. Eigentlich, 
                      sagte Agnes, würde sie die Räume gerne ganz aus-malen, 
                      bevor sie sie aufgebe. Sie sagte es, und für einen 
                      Moment saßen wir in einem unfassbaren Be-weis für 
                      Kaspar Hausers Entdeckung, dass ein Zimmer größer 
                      ist als ein Haus, denn wenn man darinnen ist, ist das Zimmer 
                      auf allen Seiten, das Haus, wenn man es anschaut, aber nur 
                      da. Oder nur dort, in jedem Fall nicht überall. Was 
                      können wir sehen, wenn wir in einem Bildraum sitzen, 
                      dachte ich, und wie weit kann man gehen, wenn man ein Bild 
                      betritt? 
                    Einen 
                      Tag nach meinem Besuch bei der Fasanen-henne, dem Ocker 
                      und den anderen Flächen auf der Insel stand ich dort 
                      nachts auf einer hohen Düne unter dem noch viel höheren 
                      Vollmond. Oben ge-schah etwas Caspardavidfriedrichhaftes 
                      mit den Wolken, die sich eilig aus dem Lichtkreis des Mon-des 
                      an den Rand des riesigen Himmels verzogen, als fürchteten 
                      sie, von einem Malerauge erwischt und auf ewig festgehalten 
                      zu werden. Ich sah das alles, und dann schaute ich auf das 
                      dunkle Watten-meer. Es lag, was sollte es anders tun, da, 
                      glatt, schwarz und blaugrau, eine vollkommen stille Büh-ne 
                      für die herüberwehenden Schreie einiger schlaf-loser 
                      Möwen. Und wo der Mond herabblickte, leuchtete das 
                      Meer in einem, ja, warmen, weichen Silber auf, dass es wehtat. 
                      Für einen Moment war mir, als könnte ich mich 
                      an genau dieses Silber aus den neueren Bildern von Agnes 
                      erinnern, aus Bil-dern, deren Schwarz und deren Blau das 
                      Licht fei-ert. Erst da begriff ich, warum mich Agnes' Bilder 
                      nicht mehr loslassen: Viele Bilder, die gemalt wer-den, 
                      erinnern an die Wirklichkeit. Der wirkliche Zauber aber 
                      beginnt da, wo die Wirklichkeit an-fängt, an ein Bild 
                      zu erinnern. Selbst wenn es dieses Bild noch gar nicht gibt.
                    Und 
                      was ist mit Giwi Margwelaschwili, dem klei-nen, klugen und 
                      melancholischen Georgier? Marg-welaschwili hat nicht nur 
                      großartige Theorien über Bücher und Gedichte, 
                      nein, auch mit Bildern kennt er sich aus: Für ihn sind 
                      sie Fenster zur Bilderwelt. Und die Bildwelträume der 
                      Meister sind heute, so sagt es Giwi M., „die kürzesten 
                      Realweltverbin-dungswege“. So steigt er im Louvre 
                      in Rembrandts Hendryke-Stoffels-Portrait, hinterlässt 
                      ein paar Ro-sen, schlendert hinüber zum Mann mit dem 
                      Gold-helm, und schon ist er in der Berliner Gemäldegale-rie. 
                      Zurück ins Bildweltfenster, und so gelangt er zum heimkehrenden 
                      verlorenen Sohn - in die St. Petersburger Eremitage. Ganz 
                      real und ohne Visum.
                    Wie 
                      gesagt, ich habe es gut, da schon ein paar Dü-nen, 
                      etwas Wind und ein wenig Silber an Agnes Si-odas Malerei 
                      erinnern. Ihre Bilder laden ein zu Rei-sen. Sie hängen 
                      in Paris und in Berlin, in New York und Ahrenshoop. Wer 
                      sie als Fenster begreift, das verspreche ich Ihnen, der 
                      kommt weit rum in der Welt. „Das schönste Gedicht“, 
                      schreibt Giwi Margwelaschwili, „ist jenes, das den 
                      Leser meinen lässt, es sei von ihm.“ So ist es 
                      auch hier: Es gibt Bilder, die gehören zu dem, der 
                      sie anschaut: Sil-ber, Fasane, Gras, Licht und Wasser. Silber, 
                      Fasane und Gras.